UNESCO-Welttag der Poesie, 21. März 2022. Mein Schriftstellerkollektiv ruft zur Poetisierung in der hiesigen Stadtbibliothek auf. Ich korrigiere: Es ist Dienstag, der 22. März, montags hat die Bibliothek geschlossen. Wir feiern quasi nach. Poesie ist geduldig und bescheiden, sie freut sich auch über verspätete Zuwendung.
Eine ältere Dame sitzt an einem Computer-Terminal gleich neben uns.
Ich spreche sie freundlich an: „Guten Tag, haben Sie Lust auf ein wenig Poesie?“
Sie schaut unbeholfen, weiß nicht so recht, was sie antworten soll. Sie braucht mehr Informationen. Poesie ist ja nicht wie Tomatensuppe aus der Dose, da weiß man, was man hat.
„Also, wir haben dort drüben auf dem Rollwagen eine Auswahl an lyrischen Texten, klassische und moderne. Shakespeare und Rilke, aber auch eigene Gedichte von uns Mannheimer Autorinnen und Autoren.“
Ihr Blick folgt meinem Finger, ich deute auf die Textauslage.
„Sie suchen sich Ihren Text in Ruhe aus. Nach dem Lesen können Sie sich den Text anhören, dort liegt ein Gerät zum Abspielen mit Kopfhörern. Und wenn Sie dann Lust haben, können Sie hier“, mein Arm wandert zu zwei zusammengerückten Tischen, über denen eine Wäscheleine gespannt ist, „selbst poetisch tätig werden. Sie können den bestehenden Text umschreiben, zum Beispiel indem sie eine Farbe hinzufügen, oder einen Alltagsgegenstand. Sie können auch ganz kreativ etwas völlig Neues dichten.“
Bedächtig steht sie auf und geht zu der Tischgruppe unter der Wäscheleine. Einige Zettel flattern daran, an hölzernen Wäscheklammern befestigt.
Hier braucht es eine zusätzliche Erklärung, das sehe ich ein. „Dort an der Leine hängen Texte, die andere Besucherinnen und Besucher bearbeitet haben. Diese sind die Ergebnisse der Poetisierung“, sage ich, ein klein wenig stolz auf die Früchte unserer Bemühungen. Okay, die meisten Zettel haben wir Autorinnen und Autoren selbst an der Leine befestigt. Nur damit der Sinn und Zweck dieser ungewöhnlichen Installation in der Bibliothek klar wird.
Zu meiner Überraschung geht die Besucherin einfach unter der Wäscheleine hindurch und dreht sich nur noch einmal flüchtig zu mir um. „Ich weiß nicht…“, murmelt sie, bevor sie auch schon zwischen zwei hohen Buchregalen verschwindet.
Ein Kollege aus dem Kollektiv tritt an meine Seite, er hat die Szene beobachtet.
„Vielleicht ist das mit der Poetisierung – Lesen, Hören, Schreiben – für die Besucher zu kompliziert“, grübelt er.
„Ja, absolut.“ Meine Antwort fällt so knapp aus, weil mein Mund noch ganz trocken ist von der langen Ansprache vorhin.
„Wir müssen vor den Interessierten schnell auf den Punkt kommen, in so einer Art Punchline“, spinnt mein Kollege seinen Gedanken weiter.
„Und wie könnte die lauten?“, frage ich neugierig.
Um seine Lippen spielt ein Lächeln, dann ruft er aus: „Gedichte! Umsonst! Viel Spaß!“
Nach der Aktion lege ich zu Hause einen Stapel Ausdrucke auf dem Küchentisch ab. Übrig gebliebene Poesie.
„Gedichte, umsonst, viel Spaß“, sage ich zu Mini 1 und Mini 2.
Nach kurzem Zögern wühlen sie sich tatsächlich begeistert durch den Blätterhaufen.
Die Punchline scheint zu funktionieren, denn auch Mister T ist in Dichterlaune: „Potzblitz! Ich will noch mehr Lakritz!“
Dieser poetische Gedankenblitz stammt nicht von ihm selbst, sondern von Ritter Rost, genauer gesagt dem sprechenden Hut seiner genialen Mitbewohnerin Bö. Mister T hat schon lange nicht mehr Ritter Rost zitiert. Wir brechen in gemeinsames Gelächter aus.
Meint Michel Houellebecq solche Momente, wenn er in „Interventionen“ Jean Cohen zitiert, und die
„Explosivkraft der Absurdität“
von Poesie?
Dabei ist Ritter Rost noch lange nicht der Gipfel der Absurdität. Ein amerikanischer Journalist hat bereits in 2015 die Schlagkraft der Äußerungen von Donald Trump erkannt und viele seiner Zitate in Gedichtform veröffentlicht. Ich habe die gesammelten Werke erst jetzt entdeckt. Gerne hätte ich die Texte während unseres USA-Aufenthaltes in 2020/21 zur Hand gehabt. Zwischen Corona-Lockdown, Black-Lives-Matter-Demos und der Erstürmung des Capitols blieb gemeinsames Gelächter mit Mini 1 und Mini 2 manchmal auf der Strecke.
Am Tag der Vereidigung von Joe Biden als neuem US-Präsidenten zum Beispiel. Da kam Mini 1 schlecht gelaunt von der Schule nach Hause und maulte: „Jemand aus meiner Klasse hat ‚Fuck Joe Biden‘ auf das Whiteboard geschmiert. Fast alle meine Freunde sagen, Trump hat eigentlich die Wahl gewonnen.“
„Hat er nicht“, entgegne ich.
„Ja, aber meine Freunde halten zu Trump. Warum halten wir zu Joe Biden?“
Hätte ich von dem D.Trump-Lyrik-Band bereits gewusst, hätte ich eins der Gedichte rausgesucht und es Mini 1 vorgelesen. Alle weiteren Erklärungen hätten sich so erübrigt, I’m sure:
Die Bösartigen
Ich wurde bösartig angegriffen
von diesen Frauen,
es ist natürlich sehr schwer für sie
mich wegen meines Aussehens anzugreifen,
weil ich so gut aussehe.
Aber ich wurde sehr bösartig angegriffen
von diesen Frauen.
(Donald Trump in einer BBC-Sendung am 9. August 2015, gefunden auf https://www.deutschlandfunk.de/trump-zitate-donald-der-dichter-100.html)
Vielleicht wäre sogar die alte Dame in der Bibliothek stehen geblieben, hätte ich dieses Gedicht zitiert. Poesie kann jeder D… onald, hätte ich noch sagen können.
Houellebecq/Cohen fassen zusammen:
Die Poesie spricht anders,
aber sie spricht von der Welt,
so wie die Menschen sie wahrnehmen.
Die Poesie sprengt unseren gewohnten Rahmen. Sie schenkt uns eine andere Perspektive, manche sagen, sie schenkt uns Wahrheit, oder Hoffnung. Wir müssen ihr nur Raum geben.
Und wenn Ritter Rost,
seiner holden Bö
eine Rose in der Dose schenkt,
ganz anders als sein Gegenspieler aus Tatschikistan,
denn der pflückt ständig Löwenzahn –
dann erscheint mir die Hoffnung greifbar, so absurd sie auch klingen mag, dass – Achtung: Lyrik! Umsonst! Viel Spaß! –
ein Wladimir
als Grenadier
gegen eine Apfelsine
Frieden mit der Ukraine
schließen
wird.
Bald.
Wo ist die Wäscheleine?
2081: Frag Amanda
Abends unbedingt Haare kämmen. Und Zähne putzen nicht vergessen. Die mahnenden Worte hallen in mir nach.
Johann und Friedrich tollen über den Flur und bilden ein Knäuel, in dem man kaum mehr einzelne Arme und Beine erkennt. Geschweige denn eine Haarmähne oder Milchzähne. Ich werde die Gute-Nacht-Rauferei wohl unterbrechen müssen. Bettina vertraut darauf, dass ich mich gut um ihre Jungs kümmere, während sie weg ist. Es sind ja nur zwei Nächte, die die beiden bei mir verbringen.
Johann und Friedrich.
Max und Moritz hätten sie heißen sollen.
Gerade kugeln sie über den Boden, auf den Putzroboter zu, der seine letzte Runde vor dem Overnight Standby drehen will. Ein kleiner Fuß versetzt ihm einen herzhaften Tritt, ob versehentlich kann ich nicht sagen. Der Roboter blinkt aufgeregt und fährt hektisch auf die Ladestation. Dort schaltet er sich ab.
Ich unterbreche das wilde Treiben.
– Johann, Friedrich, hört jetzt auf, rufe ich. Meine Stimme hat immer noch eine gewisse Strenge, man hört mir mein Alter nicht an.
Die beiden Raufbolde weichen auf der Stelle auseinander und stehen mit gespitzten Ohren im Flur, aufrecht wie zwei Erdmännchen, die die Umgebung nach feindlichen Geräuschen abhorchen.
Zufrieden nicke ich. Kinder brauchen nur klare Ansagen, dann folgen sie auch. Mein Blick fällt auf den parkenden Putzroboter. Hättest du auch besser mal eine Ansage gemacht, anstatt dich beleidigt auf deine Station zu verkrümeln, werfe ich ihm vor. Natürlich nur in Gedanken, ich rede nicht mit Maschinen.
– Ab ins Bad, zum Haare kämmen, kommandiere ich.
– Haare kämmen, wiederholt Johann enttäuscht und zieht seine sommersprossige Nase kraus.
Friedrich krakeelt von der anderen Seite:
– Ich gehe nicht ins Bad. Ich will das nicht. Und wenn ich nicht will, muss ich auch nicht, hat Amanda gesagt.
– Hat wer gesagt, frage ich überrascht.
– Amanda, blökt Friedrich. In der Schule. Da nehmen wir gerade die Kinderrechte durch.
– Und wer ist Amanda, will ich wissen. Etwa eine Lehrerin?
Friedrich rollt mit den Augen und läuft die Treppe hoch auf das Podest, das zum Wohnzimmer hin offen ist. Dort habe ich meinen beiden Besuchern das Nachtlager gerichtet. Durch die gläserne Luke in der Zimmerdecke können sie vom Bett in den Sternenhimmel schauen. Kant hätte seine Freude daran gehabt, oder Kopernikus. Obwohl die Gestirne draußen bereits um die Wette leuchten, hat Friedrich jetzt keine Augen dafür. Er kramt in seiner Reisetasche.
Als Friedrich die Treppe wieder herunter rennt, umklammert seine Hand ein weißes Gehäuse, rund, mit kleinen Löchern. Sieht aus wie ein Lautsprecher.
– Uroma, das ist Amanda, präsentiert er stolz.
Johann ergänzt:
– Das ist eine Pergamentpoetin. Jeder von uns hat in der Schule eine bekommen.
Ich beäuge das Gerät. Blassweiß, stumm, unscheinbar – eine Poetin hätte ich mir anders vorgestellt. Von einer Pergamentpoetin habe ich tatsächlich noch nie gehört.
Langsam steigt Ungeduld in mir hoch:
– Dann erklärt mir mal, was Amanda hier (ich stupse den Gegenstand mit der Fingerspitze an) mit eurer Körperpflege zu tun hat.
Friedrich legt nun seinen Zeigefinger auf das Gerät.
– Erstmal muss ich es mit meinem Fingerabdruck entsperren, Uroma, sagt er fachmännisch.
Ich warte.
– Amanda, wendet er sich dann an sein Spielzeug, welche Entscheidungen darf ich als Kind treffen? Was sind meine Rechte?
– Alle Kinder haben das Recht, Entscheidungen über ihren Körper, ihre Gesundheit und ihr Leben zu treffen, gibt der weiße Lautsprecher, gibt Amanda, Auskunft.
Danach reimt Amanda noch:
– Dein Körper gehört dir allein,
mit deinem klaren ‚Nein‘
darf niemand etwas damit tun.
Jetzt darfst du ruh‘n.
Friedrich baut sich bei diesen Worten vor mir auf, streckt sich zur vollen Größe, so dass er mir bis zur Brust reicht.
– Uroma, Amanda sagt, ich darf frei entscheiden, belehrt er mich. Und ich willige nicht in deinen Vorschlag ein, Haare zu kämmen. Zähne putzen: klares Nein. Ich möchte einfach zu Bett gehen, wie ich bin.
Ich muss blinzeln, beeindruckt von der Chuzpe meines Urenkels. Und auch ein bisschen beeindruckt von Amanda, der Pergamentpoetin, die offensichtlich weiß, dass es Zubettgehzeit ist.
– Auf einer Skala von 1 – sehr unzufrieden – bis 10 – sehr zufrieden: Wie zufrieden warst du mit meiner Antwort, säuselt Amanda.
– 10, ich gebe dir eine glatte 10, bekräftigt Friedrich.
– Amanda wurde also in der Schule ausgeteilt, vergewissere ich mich bei Johann. Und was kennt sie noch, abgesehen von der UN-Kinderrechtskonvention 1989, die ihr schamlos dazu missbraucht, Haar- und Zahnbürsten zu verweigern?
Johann strahlt.
– Sie kennt alles. Wirklich alles, Uroma.
Dann beugt er sich vor, als würde er mir ein Geheimnis anvertrauen:
– Die Pergamentpoetin ist natürlich ein Algorithmus, eine künstliche Intelligenz, die uns alles so erklären kann, dass wir es verstehen. Sie kennt jedes Buch, das jemals geschrieben wurde, jeden Text, der jemals veröffentlicht wurde, jedes Gesetz, das jemals verabschiedet wurde.
So etwas hatte ich mir fast gedacht. Eine vage Erinnerung keimt auf, aus einem Gespräch oder aus den Nachrichten. Nur von Amanda und Pergamentpoetin war überhaupt keine Rede.
– Probier’s doch mal aus, Uroma, fordert mich Friedrich auf. Frag Amanda etwas.
Ich soll Amanda etwas fragen? Aber ich rede nicht mit Masch… ach, was soll’s.
– Amanda, woher hast du deinen Namen, spreche ich in das Gerät.
Die Antwort folgt sofort.
– Ich bin benannt nach Amanda Gorman, US-amerikanische Lyrikerin und Aktivistin, geboren am 7. März 1998. Als Inaugural Poet trug sie bei der Amtseinführung des US-Präsidenten Joe Biden am 20. Januar 2021 das Gedicht The Hill We Climb vor, das weltweit Beachtung fand. Das war kurz vor deinem 40. Geburtstag.
Ich fahre erschrocken zusammen. Wieso kennt Amanda, also die weiße Amanda vor mir, meinen Geburtstag?
– Uroma, die künstliche Intelligenz erkennt dein Alter an der Stimme, flüstert Johann von der Seite.
Ich nicke ergeben.
Amanda fängt an zu rezitieren:
– For there is always light,
If only we’re brave enough to see it.
If only we’re brave enough…
– … to be it, spreche ich Amanda Gormans Worte zeitgleich mit. Natürlich kenne ich den Vers. Aus ihm tropfte damals Hoffnung wie Honig aus der Wabe.
Nun fällt mir die richtige Bezeichnung aus den Nachrichten wieder ein. Amanda ist keine Pergamentpoetin, sondern eine Parlamentspoetin.
– Auf einer Skala von 1 – sehr unzufrieden – bis 10 – sehr zufrieden-
– Elfdreiviertel, unterbreche ich Amanda. Und freue mich diebisch, als Amanda ihr Sätzchen wiederholen muss, weil sie meine Bewertung nicht verarbeiten kann.
Ganz so schlau, wie sich die Anderen heute Abend halten, sind sie doch nicht. Amanda habe ich schon ausgetrickst. Und Johann und Friedrich, euch kriege ich auch noch vor die Waschbecken. Amanda kennt jedes Buch, das jemals geschrieben wurde. Mal sehen.
– Amanda, wie nennen Leute wie Heinrich Hoffmann Kinder, die sich nicht brav kämmen lassen?
– An den Händen beiden
ließ er sich nicht schneiden
seine Nägel fast ein Jahr.
Kämmen ließ er nicht sein Haar. […]
Pfui! ruft da ein jeder:
Garst’ger Struwwelpeter.
Johann und Friedrich starren mich verdattert an.
– Pfui, wiederhole ich. Habt ihr das gehört. Amanda sagt, Herr Hoffmann nennt Kinder wie euch Struwwelpeter. Garstiger Struwwelpeter.
– Aber Uroma, wer ist denn dieser Herr Hoffmann, fragt Johann vorsichtig.
– Ach, seufze ich und winke ab. Das ist nur der Ticketkontrolleur im Schwimmbad.
Die Jungen schnappen kurz nach Luft.
– Wir wollten doch morgen schwimmen gehen, erinnere ich sie. Herr Hoffmann steht immer vorne in der Lobby, am Drehkreuz, wo alle Besucher einzeln hindurch-
Dann stehe ich mit Amanda alleine im Flur. Johann und Friedrich sind bereits ins Badezimmer gespurtet und streiten sich um den Kamm.
– Das war auf jeden Fall eine 10 für mich, murmele ich zufrieden, strecke Amanda die Zunge raus und mache mich auf den Weg ins Bad.
2081: Buchstabenfresser
Mit weichen Knien stehe ich vor der Pforte. Ich kann den Vers, ich kann ihn. Ich brauche mir keine Sorgen zu machen. Heute Mittag habe ich ihn fehlerfrei aufgesagt, ohne Hänger, ohne Häh’s.
Ich krümme meinen Zeigefinger und poche mit meinem Knöchel ganz leise gegen das Metall. Sie wissen, dass ich um diese Zeit komme. Krach gilt es zu vermeiden, in der Ausgangssperre. Es ist Dezember, die Wege sind schneebedeckt. Die Stadt scheint noch hellhöriger als sonst.
– Code, zischt es von hinter der Pforte.
Nun mein Einsatz:
– Wer reitet so spät durch Nacht und Wind,
es ist der Vater mit seinem Kind;
er hat den Knaben wohl in dem Arm,
er fasst ihn sicher, er hält ihn warm.
Mein Flüstern verebbt, doch hinter der Pforte herrscht bleierne Stille. Habe ich doch noch einen Fehler gemacht? Nein, unmöglich. Gerade den Erlkönig beherrsche ich schon seit meiner Schulzeit. Kein Fehler, ausgeschlossen.
– Zweite Strophe, bellt der Wächter.
Ich zittere ein wenig, als ich die Verse folgsam abspule:
– Mein Sohn, was birgst du so bang dein Gesicht?
Siehst Vater, du den Erlkönig nicht?
Den Erlkönig mit Kron und Schweif?
Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif.
Hinter der Pforte kratzt und quietscht es. Dann geht sie auf. Ich schlüpfe hindurch, erleichtert. Der Kellergang ist kalt und modrig. Aber von innen steigt Wärme in mir hoch, Vorfreude. Endlich betrete ich das Zimmer mit den abgedunkelten Halbfenstern. Sechs von uns sind schon da. Auf ihrem Schoß schlichte, weiße Blätter oder Notizbücher, nachtschwarz, damit sie in der Dunkelheit nicht auffallen.
Die Leiterin der heutigen Runde weist mir mit Blicken einen Stuhl zu. Ich nehme mir von dem wackelnden Tisch in der Ecke ein weißes Blatt Papier. Einen Filzschreiber habe ich selbst dabei, mit dünner Spitze, mit der ich ganz kleine Buchstaben zeichnen kann. Damit ich keine zusätzlichen Seiten benötige.
Ich höre die forsche Stimme des Wächters, der noch vorne an der Pfote verweilt.
– Code.
Dann ein undeutliches Stammeln, ein Grunzen, fast wie von einem Tier. Fäuste, die von außen gegen die Metalltür hämmern. Ich reiße erschrocken die Augen auf. Die verzweifelten Schläge gegen die Tür hallen zwischen den nackten Wänden des Flurs wider. Sekunden später betritt der Wächter allein den Raum.
– Das war’s, donnert er los, dann besinnt er sich und drosselt seine Lautstärke. Sie hat’s nicht geschafft.
Betreten sehe ich hinunter auf meine Füße. Meine schwarzen Stiefel leuchten wie neu. Wegen der langen Ausgangssperre habe ich sie kaum getragen. Im Augenwinkel nehme ich wahr, dass auch die anderen unruhig auf ihren harten Stühlen hin und her rutschen.
– War sie die einzige diese Woche, fragt die Frau, die immer leicht lispelt.
Als ich sie noch nicht so gut kannte, war sie mir unheimlich. Ich dachte, das Lispeln wäre auch ein Symptom.
– Nein, da war noch ein anderer, der sich wohl irgendwo angesteckt hat, sagt der Wächter.
– Kommt denn dieses Jahr endlich der versprochene Impfstoff, bricht es aus der Leiterin heraus.
Dann findet sie ihre Beherrschung wieder:
– Greift Papier und Stift. Wir haben eine Stunde.
Wir beugen uns über unsere Zettel und fangen an zu schreiben. Carpe diem, worauf noch warten.
Auf dem Heimweg verschmelze ich mit den Schatten der Nacht, schleiche an Hauswänden entlang, ducke mich hinter Büsche, wenn ich Schritte höre. Ich komme mir vor wie eine Katze in fremdem Revier. Meine alten Knochen machen das vielleicht nicht mehr lange mit, schon gar nicht bei diesen eisigen Temperaturen. Aber der Zettel unter meiner Bluse spendet mir Trost. Er ist dicht beschrieben, und ich kann jedes Wort auswändig, nachdem ich meinen Text der Gruppe vorgetragen habe. Ich muss ihn fehlerfrei aufsagen können. Es ist der Code für das nächste Treffen.
Eine Woche später klopfe ich wieder an die Pforte, es ist mittlerweile Januar.
– Code, knurrt der Wächter, so laut, dass ich vor der Metalltür einen Schritt rückwärts mache.
Ich schlucke, befeuchte meine Lippen und setze an:
– Wenn das Neue in Dunkelheit beginnt,
Hoffnung flüchtig durch die Finger rinnt,
wenn die Greisen und Schwachen nicht wagen
sich zurück ins Leben einzuladen,
wenn jedes Lachen, jedes Räuspern schon
gehört wird als Verdachtsfallton.
Achtung: Symptom!
Es dauert einige Sekunden, dann schwingt die Tür zur Seite. Wortlos nicke ich dem Wächter zu und laufe den dunklen Kellergang entlang. Im Raum sitzen vier stumme Mitstreiter, das Papier schon auf dem Schoß. Wir sind wenige, werden immer weniger, aber wir haben unsere Gedichte.
Der Wächter kommt in den Raum hinein, hustet kurz.
– Sind wir für heute komplett?
Die Frau mit dem Lispeln leitet unsere Runde heute.
– Mhm, grunzt der Wächter und setzt sich neben mich, auf den letzten freien Stuhl.
– Dann greift Papier und Stift. Wir haben eine Stunde, sagt die Leiterin.
Ich habe meinen ersten Buchstaben noch nicht zu Papier gebracht, als der Wächter plötzlich seinen Kopf zurücklehnt.
– Pap, pap, pap, sch, sch, sch, stammelt er.
Ungläubig schaue ich ihn an. Dann hisse ich der Leiterin zu:
– Hast du kontrolliert, ob der Wächter-
In der nächsten Sekunde schießt der Oberkörper des Wächters nach vorne. Er niest, er niest mitten in unseren Stuhlkreis hinein. Sofort bedecken alle ihr Gesicht mit den Händen, schreien, wühlen in den Hosentaschen nach Tüchern, um ihre Haut zu reinigen.
Mir steigen Tränen der Verzweiflung in die Augen, ich kann mich nicht bremsen, jammere, klage, heule Rotz und Wasser. Dicke Tropfen klatschen auf mein Papier, während der Wächter neben mir auf den Boden sinkt und sich an ein hölzernes Stuhlbein klammert.
– Code, Code, Ko, Ko, Kooo, stößt er aus, und ich bin kurz davor, den Verstand zu verlieren.
– Ruhe, brüllt die Leiterin. Dann leiser: Ruhe. Ich-
Mit erstickter Stimme wispert sie:
– Ich habe es versäumt, den Wächter zu kontrollieren. Offenbar hat er das Virus.
Für einen Moment ist es totenstill. Allen hat es die Sprache verschlagen. Grausame Bilder gehen mir durch den Kopf, wie ich in meiner Wohnung kauere, unfähig, auch nur ein einfaches Wort zu artikulieren, wie der Wächter eben.
Die Leiterin fährt fort, ihr Lispeln ist so vertraut, dass ich es fast schon nicht mehr wahrnehme:
– Wir alle wussten, dass unsere Zusammenkünfte das Risiko der Ansteckung bergen. Wir alle haben die Ausgangssperre missachtet, die zu unserem Schutz erlassen wurde. Wir alle konnten und wollten nicht mehr einsam zu Hause sitzen und uns unserer Angst hingeben.
Sie macht einen tiefen Atemzug und wischt sich etwas aus dem Augenwinkel.
– Jetzt müssen wir mit den Konsequenzen leben.
Einige nicken langsam, andere murmeln leise ihre Zustimmung.
Jetzt fixiert mich die Leiterin:
– Wir sind hier, weil wir gemeinsam Hoffnung schöpfen wollten. Also lasst uns das tun. Bitte, sprich dein Gedicht für uns.
Mein Mund ist trocken. Ich blicke nach links, in das bestürzte Gesicht meines Nachbarn, dann auf den Boden, wo der Wächter weiter vergeblich versucht, Worte zu formen. Gerade packt er einen Stift und grapscht nach dem zerknitterten Blatt Papier auf meinem Schoß. Ich springe auf und drücke mich an die Wand. Er ignoriert mich, starrt das Papier an, kritzelt dann zwei, drei Striche mit unkontrollierten Bewegungen. Ein Jaulen, als er erkennt, dass nichts von alledem Sinn macht. Schließlich schmeißt er den Stift in die Ecke und zerreißt das Papier.
– Wenn das Neue, stimme ich zaghaft aus der Zimmerecke an.
Ich merke, wie sich die Worte aufreihen, um meine Kehle zu verlassen, eins nach dem anderen, in bester Ordnung. Die Buchstaben steigen von unten herauf, aus der Wärme meines Leibesinneren in die Mundhöhle, wo sie über die weiche Zunge gegen die Zähne gleiten, wie gut trainierte Soldaten, die eine Mission zu erfüllen haben. Vielleicht die letzte Mission, obwohl das Jahr gerade erst begonnen hat.
Ich trete in die Mitte des Zimmers, in das Zentrum des Stuhlkreises. Meine Stimme ist fest.
– Wenn das Neue in Dunkelheit beginnt,
Hoffnung flüchtig durch die Finger rinnt,
wenn die Greisen und Schwachen nicht wagen
sich zurück ins Leben einzuladen,
wenn jedes Lachen, jedes Räuspern schon
gehört wird als Verdachtsfallton.
Achtung: Symptom!
Wenn wütende Zweifler Forscher meiden,
weil die Prognosen Schiffbruch erleiden,
wenn für unsere mutierte Welt
aber Wissenschaft die Fakten stellt .
Wenn der Alltag sich ins nächste Jahr verschiebt,
weil es nicht für alle Stoff zum Träumen gibt,
Stoff, der
Wellen bricht,
Mauern stürzt,
Masken löscht.
Wenn Kinder im Gesicht die Augen lesen,
von allen Kinderwünschen schon genesen,
wenn sich das Hamsterrad zu Hause dreht,
Licht an,
Pyjama aus,
Laptop auf,
wenn die innere Uhr immer öfter steht,
weil wir schlafen, wo wir schwitzen,
in digitalen Zellen Zeit absitzen.
Dann
werden wir uns selber überraschen,
wie wir suchen,
wie wir sehnen,
wie wir singen,
werden selbst zum Licht,
das wir der Nacht abringen.
Wir werden beieinander stehen
stoisch,
stark,
still,
werden die Hände verschränken,
nicht weil Gott es will,
sondern wir,
wir wollen uns erwärmen
an dem Funken Zuversicht,
diesen unverwüstlich steten Schimmer,
den das Neujahr bringt,
immer.
Eine Woche später.
Dreiml am Tag sag ich n Gdicht auf, jeds Mal ein ands. Heut Aben ist Sch… Schiler drannn.
– Fest gemauert in der Erdn,
steht die Frm, aus Lehm gebrann.
Ich vrsuche meine undeulich Ausprch zu ignorn. Noch stze ich nich aufm Bodn und grnze wie n Tir. Noch hbe ich Hffng.
– Hte muss die Glocke wrdn,
Frisch, Geseln, seid z Hnd.
Nisn, ich mss niiisn. Und hsten. Kann nich sprchn. Vlleich noch schreib. Brche Papp, Papp, Papp und Sch..Sch…
Inspiration und Information zur Posie im Hier und Jetzt und in der Zukunft:
https://www.youtube.com/watch?v=-O5mWa9tykc&list=RDEMhO7RHw9WwKT-jIBEjQiywg&index=10
– Legendärer Signature Song von Ritter Rost (Jörg Hilberg / Felix Janosa). Dem famosen Ritter wird jegliche Anerkennung des patenten Burgfräuleins Bö verweigert. Diese frotzelt lieber mit ihrem Hausdrachen und ihrem Hut. Eigentlich Verhältnisse wie in jeder modernen Familie.
– Das Kulturmagazin “Perlentaucher” stellt Trumps gesammelten, poetischen Werke in einem wunderbar bissig geschriebenen Artikel vor. Let’s make poetry great again!
– Houellebecq über Trump, Habeck über Houellebecq, Welt über Habeck. Klar ist: Ich teile, wenn überhaupt, Houellebecqs Ansichten über Poesie, nicht über Politik.
– Gelungene Visualisierung der Redebeiträge von Präsidentschaftskandidat*innen Trump und Clinton in der Fernsehdebatte 2016. Stichwort Absurdität.
– Mithu Sanyal, Dmitrij Kapitelman und Simone Buchholz sorgten für viel Diskussion in Deutschlands Medienlandschaft mit ihrer erstmalig Anfang 2022 in der SZ veröffentlichten Forderung nach der Einführung einer Parlamentspoet*in. Die SZ stellt leider nur das Titelfoto (Amanda Gorman, die Namensgeberin der Amanda aus meiner Geschichte) umsonst zur Verfügung, für den Artikel braucht man ein Abo.
– Komödiantisches Bewerbungsgedicht für das Amt des Parlamentspoeten von Thomas Gsella, Autor von „Ich zahl’s euch reim: Neue politische Gedichte“. Für fünftausend netto würde er gerne noch mehr „beinharte Metaphern“ produzieren.
– Zwei Journalisten von NDR Kultur erörtern Pro und Contra einer Parlamentspoet*in mit einer guten Portion Satire. Lesenswert.
https://www.youtube.com/watch?v=Zi1-PkzCB-Q
– Lutz van der Horst debütiert als Parlamentspoet. Es geht überraschenderweise auch hier um eine Dose. Und dann noch ein Reim vom satirischen Aushängeschild der ZDF Heute-Show:
„Seh ich bei Lanz den Lauterbach,
die Glotze ich stets lauter mach.
Bei Friedrich Merz stell ich gleich leise,
denn der verzapft ja eh nur …“
https://www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/perfect-sense-2011
– Mit allen Sinnen genießen. Poetisch. Was, wenn eine Pandemie die Sinne auslöscht? Der Kinofilm “Perfect Sense” aus 2011 ist ein seltenes Genre-Crossover aus Dystopie und Liebesfilm mit Ewan McGregor und Bond-Girl Eva Green. Hoffnungslos schön.
Eine Antwort zu “#4 – Von der Poesie und was sie uns schenkt (wenn wir es annehmen)”
Die Kurzgeschichte mit Amanda herrlich!Wenn Karlsson die liest,muss er
bestimmt wieder grinsen😊.Von der Poesie zu lesen war lehrreich.Wusste
gar nicht ,dass sie so unter schiedlichen angewendet werden kann.
Wiedermal sehr gelungene Beiträge🔝.