Vor gar nicht langer Zeit, in unserer Küche. Mini 2 durchstöbert hungrig den Vorratsschrank. Die Schule ist aus, der Magen ist leer. Eifrig wühlt er sich durch Quinoariegel und Bio-Dinkelgebäck, bis er, ganz unten im Apothekerschrank, die einzeln abgepackten Salamiwürstchen entdeckt. Nennen wir sie im Folgenden einfach Mifi. Es ist die Sorte Nahrungsmittel, bei der der Hersteller lieber auf die freiwillige Lebensmittelampel verzichtet. Hoher Fettgehalt, eine ordentliche Portion Salz, fast frei von Nährstoffen. Fleisch, doppelt verpackt in Plastik und Aluminium. Mein schlechtes Gewissen begehrt auf, bewusste Ernährung und so.
„Musst du unbedingt eine Mifi essen?“, hinterfrage ich also das Ergebnis seiner Snack-Recherche.
„Jaaaaa, ich habe total Hunger“, bestätigt Mini 2 lautstark. „Du hast ja noch kein Mittagessen gekocht.“
Das stimmt. Das koche ich erst, wenn Mini 1 aus der Schule kommt, in circa zwei Stunden. Sonst wird ja alles kalt.
Mister T betritt die Küche. „Eine halbe Stunde Pause vor der nächsten TelCo“, informiert er mich und lässt seinen Blick suchend über die leeren Herdplatten wandern. Danach scannt er den Kühlschrank, Bio-Äpfel, Birnen aus Deutschland. Mini 2 gesellt sich zu ihm, die halbe Salami in der Hand.
„Mini 2 ist viel zu viele Mifis“, bemerkt Mister T und reißt einen Pizzakarton auf. Die Pizza ist eigentlich für Notfälle gedacht: Mister T und ich krank im Bett, spontaner Besuch am Sonntag, leere Regale im Supermarkt – es herrscht schließlich Krieg um Öl.
„Musst du jetzt unbedingt Tiefkühlkost essen?“
Mister T zuckt mit den Schultern. „Du hast ja noch kein Mittagessen gekocht.“
Den einzigen Kunden, den ich im heimischen Kantinenbetrieb zufriedenstellen kann, ist Mini 1. Ich serviere Kartoffelpüree mit Bio-Möhrchen, dazu Lachs aus zertifiziertem Fischfang. „Lecker“, lobt mich Mini 1. Doch schon nach drei Gabeln lehnt er sich zurück. „Ich kann nicht mehr, Mama“. Mein Magen verkrampft: das Essen ist frisch gekocht, alle Zutaten sind von hochwertiger Qualität. Zugegeben, die Mifi-Pizza-Aromen liegen noch in der Luft und machen nicht unbedingt Appetit auf Fisch. „Möchtest du Apfelmus zum Kartoffelpüree?“, locke ich. Null-Prozent-Zugesetzter-Zucker-Apfelmus, versteht sich von selbst. Mini 1 zieht die Nase kraus. „Nein, ich bin einfach satt. Das Wechselgeld vom Bus reichte heute noch für eine Brezel auf dem Rückweg.“
Unsere Familie ist nicht desorganisiert. Wir folgen – ganz unbewusst – einem aktuellen Essenstrend: Snackification.
„Das Konzept der Snackification passt sehr gut in unseren modernen to-go-Alltag. Dabei verliert das üppige dreigänge Mittags-Menü besonders stark an Bedeutung. In Kombination mit dem gesteigerten Gesundheitsbewusstsein und der wachsenden Genussfreude führt es tendenziell sogar zu einer achtsameren Ernährung.“ (https://www.ktchnrebel.com/de/snackification/)
Gesunde und achtsame Ernährung? Meine Kinder ziehen eine Mifi jederzeit einer Vollkornbrotstulle mit Paprika-Linsen-Aufstrich vor. Über das problematische Verhältnis von Mini 2 und veganer Schinkenwurst hatte ich bereits in Blog-Beitrag #1 berichtet.
Ich feiere meinen Geburtstag nach. Eine sehr gute Freundin, erwachsen, kommt zum Sektfrühstück vorbei. Sie lebt seit vielen Jahren in einer deutschen Großstadt und liegt bei neuen Trends ganz vorne. Manchmal ernte ich von ihr ein gutmütiges Lächeln für meine Rückständigkeit. Zum Beispiel als ich meine erste Essensbestellung per Lieferanten-App bar an der Tür begleichen wollte.
„Was kann ich dir anbieten?“, frage ich. Der Tisch ist gedeckt mit einem Sammelsurium aus Snacks: belegte Dinkelbrötchenhälften, vegane süße Teilchen vom lokalen Bäcker, zuckerreduziertes Müsli, ausgewogen, ihr wisst schon.
Sie entscheidet sich für ein Schinkenwurstbrötchen und einen Café Latte. „Der Milchschaum schmeckt irgendwie anders als sonst“, bemerkt sie und beißt in ihr Brötchen. Mini 2 lässt den Löffel in sein Müsli platschen: „Was ist das denn für Milch?“ Ehe ich Freundin und Sohn über Hafermilch als vitaminreiche, ökologisch nachhaltige Alternative zur Kuhmilch aufklären kann, kullern ihm dicke Tränen über die Wangen. „Das Öko-Zeugs kommt nicht gut an bei dem Kleinen?“, lacht die Freundin und schluckt den letzten Bissen vom Brötchen.
Ich verdrehe die Augen. Dann schmunzle ich: „Gegen die vegane Schinkenwurst kämpft er auch. Hat sie dir wenigstens geschmeckt?“ Ihr klappt die Kinnlade runter. „Vegane Wurst?“
Mein Grinsen erfriert auf der Stelle.
Mister T schmiert Mini 2 gegenüber am Tisch eine Stulle mit Schokocreme. Es ist eine günstige Marke von der Sorte, die weiterhin ungeniert Palmöl und Milchpulver enthält. Jegliches Ersatzprodukt für mehr Nachhaltigkeit lässt er einfach so lange unangetastet, bis das Verfallsdatum abgelaufen ist. Oder bis ich die Gläser wegen Platzmangels im Apothekerschrank freiwillig entsorge.
„Hätte ich dir vorher sagen sollen, dass die Schinkenwurst vegan ist?“, frage ich die Großstadtfreundin kleinlaut. Für einen Moment starrt sie mich finster an. Dann fällt ihr Blick auf die Geburtstagstüte, die ich noch nicht ausgepackt habe, und wird milder. „Bin halt kein Fan von Ersatzprodukten. Wenn ich Wurst esse, soll es auch wirklich Wurst sein. Ich mag es nicht, wenn das Essen mir etwas vorgaukelt.“ Das verstehe ich. Dieser Ausspruch hat etwas Wahrhaftiges.
Du bist, was du isst –
wer kann ich noch sein, wenn ich gar nicht mehr weiß, was ich esse?
Der Mund von Mini 2 ist braun bis hoch zu den Nasenflügeln. Pädagogisch ist es nicht ratsam, ein trauriges Kind mit Süßem zu trösten. Aber die Augen von Mini 2 leuchten so, als ob wir zurück wären in den USA, in dem Ice-Cream-Shop mit Außentischen zwischen den SUVs auf dem Parkplatz. Dort ergaben Unmengen von Sahne, Cookies und Farbstoff zusammen so klangvolle Eissorten wie „Heaps of Love“ oder „Mint Avalanche“.
Bewusste Ernährung? Definitionssache. Meine Kinder konnten kaum an etwas Anderes denken im Sommer, so sehr war das bunte Eis in ihrem Bewusstsein festgefroren.
Mir fällt das folgende Zitat ein:
Man soll dem Leib etwas Gutes bieten,
damit die Seele Lust hat, darin zu wohnen.
Egal, ob Winston Churchill diesen Ausspruch wirklich erdacht oder nur von der Werbetafel eines (angeblich deutschen) Restaurants abgelesen hat: Meine Freundin taucht nun ihr Messer in die Schokocreme und schmiert sich ebenfalls eine Stulle. Ich kann fast hören, wie ihre Seele aufatmet.
2081: Zwergenaufstand
Calvin steht bereits im Flur, kaum dass die Haustür zur Seite gefahren ist. Mein Sohn hat es eilig. Seine Familie in der Wohnung über mir wartet bestimmt schon ungeduldig mit dem Abendbrot.
– Mutter, wo bist du?
– Ich bin hier hinten, im Lesezimmer, antworte ich endlich und setze mich aufrecht hin.
Abends sinke ich doch etwas tiefer in den gemütlichen Sessel, als ich sollte. Im Laufschritt durchquert Calvin die Wohnung. Vor dem Eingang zu meinem Lesezimmer stößt er sich den Fuß an irgendetwas und flucht.
– Überall diese Papierhaufen, Mutter! Jetzt habe ich mir vielleicht den Zeh gebrochen.
– Das sind keine Papierhaufen, sondern Bücher, Calvin. Ich mustere meinen Sohn, wie er seinen Zeh untersucht, noch völlig außer Atem. Er braucht mich jetzt. Was kann ich für dich tun? Soll ich dir Eis für deinen Zeh holen, frage ich mitfühlend.
Calvin wirft mir einen vernichtenden Blick zu. So schlecht ist seine Laune selten, am Feierabend. Ich erhebe mich aus dem Sessel und mache einen Schritt auf ihn zu. Gerade noch rechtzeitig unterdrücke ich das Bedürfnis, ein Bonbon aus meiner Hosentasche zu angeln. Er ist mittlerweile über sechzig. Die Bonbons sind für Marie, meine Urenkelin. Sie wohnt in der Wohnung unter mir, mit Calvins Tochter und ihrer Frau.
– Ich kann dir sagen, was du für mich und für uns alle in diesem Haus tun kannst, Mutter, zischt Calvin ungehalten. Du lässt Marie nicht mehr in den Garten!
– Aber warum denn nicht, frage ich, aufrichtig ahnungslos.
Calvin stöhnt und lässt sich dann selbst in den Lesesessel fallen.
– Weil sie meinen neu gesetzten Salat zertrampelt hat. Und den Agribot durcheinandergebracht hat. Wahrscheinlich hat sie die Aufsätze der Maschine vertauscht. Der Agribot hat heute gedüngt und nicht gegossen. Das ist fatal, Mutter!
Ich nicke betrübt.
– Der arme Salat, sage ich.
– Der arme Salat, fragt Calvin zurück und fasst sich aufgeregt an den Kopf. Es geht hier nicht nur um Salat, Mutter. Wenn der Agribot nicht richtig funktioniert, wird keins der Gemüse im Garten ordentlich wachsen. Die Pflänzlein können sich doch in der Sommerhitze nicht selbst durchkämpfen! Er holt tief Luft und sagt mit eindringlicher Stimme: Diese 45 Quadratmeter Garten hinter dem Haus sind unsere einzige Chance auf natürliche Lebensmittel. Wenn Marie dort weiterhin ihr Unwesen treibt, dann bleibt nur noch der Supermarkt. Wie die Karotten und Tomaten von dort schmecken, weißt du ja. Nicht umsonst teilt der Staat jedem Haushalt ein Gartengrundstück zu.
Wie er so dasitzt und seinen Zeh mit den Fingern massiert, möchte ich ihm über den Kopf streicheln. Aber auch das hebe ich mir für Marie auf. Ich denke, das ist Calvin lieber.
– Warum ist Marie denn durch den Garten gestreunt, frage ich sorglos.
Calvin macht eine wegwerfende Handbewegung und rümpft die Nase in Richtung der Bücherstapel neben ihm.
– Als ob du das nicht wüsstest, Mutter. Als ich ratlos mit den Schultern zucke, fährt er fort: Du warst es doch, die Marie dieses Märchen vorgelesen hat. Irgendwelche Zwerge in irgendwelchen Wäldern, so ein Bücherquatsch.
Nun dringt es langsam zu mir durch. Sollte Marie etwa…
– Marie hat sich in den Kopf gesetzt, in unserem Garten einen Zwerg zu finden, sagt Calvin vorwurfsvoll.
Langsam dämmert es mir. Marie sucht also Zwerge zwischen Gurken und Kohl, im Gartenstück hinter dem Haus. Im Reich des vollautomatischen Agribots, der während Calvins Abwesenheit die Pflanzen versorgt, vermutet sie zipfelmützige Mitbewohner, womöglich mit Bart und Spitzhacke. Ich muss mir schnell auf die Zunge beißen, um nicht zu lachen.
– Bring das wieder in Ordnung, Mutter, faucht Calvin. Sonst teile ich dich für die nächsten Familienessen zum Zwiebeln schneiden ein.
Mit schmerzverzerrtem Gesicht erhebt er sich aus dem Sessel und humpelt zur Tür.
Am nächsten Morgen besuche ich Marie zum Frühstück, es ist Wochenende, schulfrei. Auf dem Tisch leuchtet ein Obstsalat sommerfarben. Marie schneidet eine Paprika und schlägt das Innenleben mit den kitzlig kleinen Kernen vorsichtig in ein Tuch ein.
– Für die Hasen draußen im Stall, klärt sie mich auf.
– Mhm, für die Hasen also. Weißt du was, Marie?
Sie schaut mich an, 127 Zentimeter pure Neugierde.
– Ich habe gehört, dass sich Hasen und Zwerge überhaupt nicht gut leiden können.
Mein verschwörerischer Blick prallt an Marie ab. Ungläubig legt sie die Stirn in Falten.
– Aber meine Hasen sind ganz lieb. Sie senkt die Stimme. Ich glaube, mit Zwergen können sie sich sogar unterhalten. Nur wir Menschen verstehen die Hasensprache nicht.
Ich atme durch. Das wird keine leichte Übung.
– Also, Zwerge unterhalten sich eigentlich gar nicht, widerspreche ich. Sie sind viel zu beschäftigt. Sie-
– Aber die Zwerge aus deiner Geschichte haben doch ganz viel gesprochen, beschwert haben sie sich sogar, als die Frau ihre Sachen benutzt und ihr Gemüse gegessen hat, bevor sie in den fiesen Apfel gebissen hat und tot umgefallen ist. Bäh, Apfel.
– Ja schon, aber du erinnerst dich doch, dass die Zwerge in einem Bergwerk gearbeitet haben, oder?
Nun muss Marie nicken. Endlich habe ich einen Anknüpfungspunkt.
– Also, was früher das Bergwerk war, sind heute die riesigen Gewächshäuser. Am Ortseingang steht so eins, ein riesiger Betonklotz, fast wie ein Hochhaus, ganz ohne Fenster. Dort arbeiten die Zwerge. Und weil das Gemüse in meterhohen Regalen wächst, größer als deine beiden Mütter zusammen, braucht es alle Zwerge, die es hier in der Gegend gibt. Und weißt du, worum sich die Zwerge genau kümmern?
Marie schüttelt den Kopf, woher soll sie es auch wissen. Ich wusste es bis vor ein paar Sekunden selbst nicht.
– Sie führen dem Wasser, das die armen Pflänzchen auf ihren Schwämmchen bekommen, Vitamine und Nährstoffe zu. Denn im schummrigen Kunstlicht können sie die nicht selbst bilden. Wenn die Zwerge nicht wären, Marie, würden die Menschen, die ihren Garten nicht bewirtschaften und ihr Gemüse im Supermarkt kaufen müssen, ganz krank.
Mit weit aufgerissenen Augen hört Marie zu. Ich habe kein schlechtes Gewissen, denn es ist alles so, wie ich es sage, Gewächshäuser, Kunstlicht, angereichertes Wasser. Nur eben ohne Zwerge.
– In unserem Garten fühlen sich die fleißigen Zwerge nutzlos, spinne ich meine Geschichte weiter. Denn hier haben die Pflanzen alles, was sie brauchen, um ganz viele Nährstoffe zu entwickeln: Sonnenlicht, Mutterboden, natürlichen Dünger und alles sonst, worum sich Opa Calvin mit dem Agribot kümmert.
Ich greife nach einem Stück fleischiger Paprika und kaue zufrieden.
– Deswegen schmeckt unser Gemüse auch so gut, sage ich.
Das feine Näschen in Maries Gesicht kräuselt sich.
– Uroma, ich glaube, du lügst.
Hustend würge ich ein Stück Paprika hoch, an dem ich mich gerade verschluckt habe.
– Ich war schonmal in diesem Gewächshaus am Ortseingang, auf einem Schulausflug. Da gibt es keine Zwerge. Um die Vitamine kümmern sich Leute in weißen Kitteln. Marie verschränkt entschlossen die Arme vor der Brust. Für Zwerge gibt es nur einen möglichen Ort, und das ist unser Garten.
Sie schaut mich genauso eindringlich an wie Calvin gestern. Meine Hände sind feucht vor Aufregung. Ich muss meine Strategie ändern, noch habe ich eine Chance.
– Okay, flüstere ich. Von den Menschen in Kitteln wusste ich nichts. Dann wohnen die Zwerge vielleicht doch eher bei uns an der frischen Luft. Aber versprichst du mir, dass wir sie gemeinsam suchen?
Damit lege ich alle Bonbons aus meiner Hosentasche auf den Tisch. Fünf Stück.
– Ich kenne Zwerge ja auch nur aus meinen Büchern, Marie, und würde sie auch so gerne persönlich kennenlernen.
Bedächtig streckt Marie eines ihrer rosa Händchen aus und lässt die Bonbons vom Tisch verschwinden. Sie nickt verbindlich und fühlt in ihrer Hosentasche nochmal nach, ob alle fünf Dropse da sind.
Ein wenig stolz texte ich Calvin, dass sein Gemüse ungestört weiterwachsen kann. Maries Zwergenaufstand ist endlich unter Kontrolle.
2081: Gründonnerstag
Immer, wenn in der Wohnung nebenan der Junge brüllt, beginnt mein Magen zu knurren. Ich erinnere mich an das Experiment mit dem Hund, der bei jedem Glockenschlag eine Wurst bekommt. Und irgendwann schon beim Ton der Glocke nach der Wurst geifert. Nur, dass es keine Wurst mehr gibt, für mich jedenfalls nicht.
Ich schaue auf die Uhr. Ja, es ist Zeit. Auf direktem Weg begebe ich mich in die Küche. Tatsächlich leuchtet das Signal der Luke grün. Ein Knopfdruck, und sie gibt das Tablett frei. Ich ziehe es aus der Luke, nicht zu hastig. Vor einigen Monaten war mir das Tablett aus der Hand gerutscht, und es hat mehrere Stunden gedauert, bis ein neues eingestellt wurde. Der Ersatz enthielt nur die halbe Portion. Ich habe es nicht reklamiert.
Unter der Abdeckung dampft es noch. Mit drei Schritten bin ich am Küchentisch. In dem Moment, wo ich die Abdeckung lüfte, kribbeln meine Fingerspitzen, immer noch. Die Raserei nebenan nimmt heute kein Ende. An guten Tagen sind es kurze Schreie. An schlechten jault der Junge über Stunden, wie ein Tier, das sich in Stacheldraht verheddert hat. Bald ist er ein ausgewachsener Mann, irgendwie beängstigend, oder nein, doch eher beruhigend.
Die heiße Komponente an diesem Mittag ist 80 g Kartoffelstampf, blassgelb. Die Masse ist zu flüssig für Püree, zu sämig für Suppe. Dazu zwei Crispy Bisquits, jeweils 75 g. Und eine Handvoll Spirulina. Meine EatWell-Watch zeigt das Gewicht an, aber ich schaue nicht nach. Was ist der Unterschied zwischen 50g oder 60g Algen?
Nach zwei Gabeln klopft es an meiner Tür. Meine Nachbarin steht davor, ihre Augen sind geschwollen. Durch die dünne Trennwand höre ich ihren Sohn nebenan wimmern.
– Ich glaube nicht, dass ich helfen kann, sage ich zur Begrüßung.
Wir brauchen nicht um den heißen Brei zu reden. Ihre magere Brust hebt und senkt sich, das kann auch das sackähnliche Kleid nicht verbergen. In den schlechten Phasen, wenn er wächst oder seinem Bewegungsdrang nachgibt, trägt sie immer weite Kleidung.
– Sein Fleisch ist nicht mitgekommen, das Labor hatte einen Stromausfall. Und sie haben ihm schon wieder den Nachtisch gestrichen, sagt sie mit brüchiger Stimme.
– Na ja, versuche ich sie zu beruhigen. Das mit dem Nachtisch ist ja nur zu seinem Besten, zuckerreduziert, dann ist er nicht so nervös. Zu viel Bewegung macht hungrig. Im nächsten Augenblick halte ich die Luft an. Habe ich das wirklich gesagt?
Sie schluchzt, macht zwei Fäuste, bis die Knöchel weiß hervorstehen. Ich schaue weg. Meine größte Sorge ist, dass die Kartoffelpfütze eiskalt wird, wenn ich das Gespräch nicht bald beende. Andererseits: Wann hatte die Arme wohl das letzte Mal eine volle Mahlzeit, ausgemergelt, wie sie da im Türrahmen kauert?
– Ich hatte auch schon lange kein Dessert mehr, sage ich. Wegen meiner Diabetes.
Nun stutzt sie, ich fühle mich gezwungen, mich zu erklären.
– Die Diabetes hat sich entwickelt, bevor wir an EatWell angebunden wurden.
Ich möchte jetzt an den Küchentisch zurück. Ist doch ihre Entscheidung, sich halb tot zu hungern. Für sie heiligt der Zweck die Mittel: Je schlechter ihre Biodaten, desto reichhaltiger werden die EatWell-Komponenten. Je voller ihr Tablett aus der Luke, desto leiser und unaufgeregter die Mahlzeiten mit ihrem Sohn, in der Wohnung nebenan. Schlau, wie sie das System an der Nase herumführt.
Auf dem Flur hören wir seine Wut, wie er jetzt drinnen tobt, dann ein Klirren, als hätte er ein Glas oder eine Vase zerschmettert. Wehmütig blickt die Nachbarin an mir vorbei. Die Küchentür steht auf, ihre Augen sehen sich an meinem Tablett satt, am Kartoffelgelb, am Grün der Spirulina. Dann wendet sie sich ab und schlurft zurück.
Am Abend kann ich kaum meinen Löffel auf dem Tablett klappern hören, der Sohn stiftet wieder Chaos in der Wohnung nebenan. Nach weiteren drei kläglichen Tagen habe ich selbst kaum mehr Appetit.
Es ist Donnerstag. Eine halbe Stunde vor dem grünen Licht verlasse ich die Wohnung, läute nebenan, noch bevor der Lärm losgeht.
– Hallo, klingt es dumpf durch die geschlossene Wohnungstür. Meine Mutter ist nicht da.
– Hallo, junger Mann, hier ist deine Nachbarin, sage ich. Mach doch mal auf.
Er zögert, das spüre ich. Wir haben kaum ein paar Worte miteinander gewechselt, obwohl wir schon lange Nachbarinnen sind, seine Mutter und ich. Sie stellt sich immer so schützend vor ihn. Als wäre ich es, die die Essenkomponenten einteilte, als würde ich ihm weniger geben, wenn ich ihn von oben bis unten anschaute und zu dem Schluss käme: Der ist gut im Futter. Dabei läuft das alles über die Software des Gesundheitsamts, über unsere EatWell-Watches, jeder muss eine tragen. Jeder von uns ist verbunden mit EatWell-Servern, auf denen die EatWell-Algorithmen laufen, ohne Mängel und ohne Mägen. Das Gesundheitsamt sagt, es ist nur zu unserem Besten.
Es knackt im Schloss, die Tür geht einen Spaltbreit auf.
– Was wollen sie, fragt er, sehr unwirsch für sein Alter. Aber Hunger macht das Herz hart, das kenne ich.
Ich strecke meine Hand aus und halte ihm drei Crispy Bisquits hin.
– Hier, nimm. Die habe ich für dich gesammelt. Du bist jung, du brauchst das Eiweiß-
Aus den Insekten, hätte ich fast gesagt, konnte mir gerade noch auf die Zunge beißen. Was, wenn er gar nicht weiß, woraus die Bisquits gemacht sind?
Die Tür schwingt auf, er lässt seine Deckung fallen. Aus einem runden Gesicht leuchten zwei blaue Augen, sehr viel wacher als die seiner Mutter. Überhaupt sieht er sehr viel gesünder aus, im Großen und Ganzen. Seine Wangen sind fleischig genug für Grübchen, dabei ist er doch schon dreizehn, vielleicht vierzehn. Ich freue mich, dass er die Bisquits annimmt, von einer fast Fremden. Zwei davon stopft er sich sofort in den Mund.
Die Wohnung nebenan ist genauso geschnitten wie meine eigene. Ich kann durch die offene Tür in die Küche blicken. Mein Magen verkrampft sich auf Erbsengröße, ich beginne zu würgen, als ich sie sehe. Ihr Körper hängt von der Decke wie ein guter Schinken. Irgendwo ist ein Fenster offen, ihre Füße drehen sich über dem Boden in der Zugluft.
Der Junge erstarrt, krallt sich an dem übrigen Bisquit fest.
– Bitte sagen sie nichts, winselt er mich an.
Mein Körper gerät ins Wanken, ich muss mich an der Wand festhalten. Was für eine Verschwendung, denke ich.
– Sie konnte nicht mehr, sagt er. Es war immer zu wenig für sie, seit es nur noch die Luken gibt. Mit erstickter Stimme flüstert er: Sie musste etwas unternehmen.
Als ob ich verstehen müsste, dass das der nächste logische Schritt wäre. Automatisch schüttele ich den Kopf, schüttele diesen Donnerstag von mir ab, den zermatschten Bisquit in der Hand des Jungen, das Baumeln in der Küche. Er packt mich am Arm, zieht mich mit in Richtung Küche, kontrolliert das Licht an der Luke. Ich folge seinem Blick. Noch leuchtet es nicht grün.
– Gleich ist es soweit, höre ich sein heiseres Japsen. Vielleicht hat noch niemand etwas bemerkt. Ich brauche höchstens zehn Minuten für beide Tabletts. Danach wähle ich sofort den Notruf, versprochen.
Inspiration und Information zum Essen der Zukunft:
https://www.zukunftsinstitut.de/artikel/wie-wir-morgen-essen-werden/
– Flexitarier, New Gardening, Re-Use-Food… noch nie gehört? Dann lest diesen Artikel.
– Klärt über Insekten als umweltfreundliche Alternative zu Fleisch auf. Den Namen “Bug Break” für einen Insektenproteinriegel finde ich schon genial. Probieren würde ich ihn … vielleicht…
– Weltspiegel-Reportage über Essen der Zukunft. Ich finde den Garten des Küchenchefs phänomenal. Wenn da mal nicht ein paar fleißige Zwerge mithelfen…
– Abenteuer-Leben-Reportage über das Essen der Zukunft aus dem Silicon Valley. Ab Minute 2:48 wird ein “Farmbot” für den eigenen Nutzgarten vorgestellt, den es tatsächlich schon zu kaufen gibt. Mit steigender Nachfrage sinkt der Preis dann hoffentlich noch.
– Fensterlose Gewächshäuser und Lachs aus dem 3-D-Drucker. C’est pas bon, meint die französische Politik.
https://reportage.mdr.de/essen-der-zukunft#9958
– Umfassende Audio-Slideshow des MDR zur Ernährung der Zukunft. Zitat: “Du isst, was du bist.”
https://www.bzfe.de/nachhaltiger-konsum/lagern-kochen-essen-teilen/planetary-health-diet/
– Speiseplan der Zukunft vom Bundeszentrum für Ernährung. Noch sind keine Insekten drauf.
– Behandelt die Herausforderungen der pflanzlichen Nachbildung von marmorierten Steaks
https://utopia.de/ratgeber/rezept-fuer-veganen-mandelkuchen-so-gehts/
– Habe letztens nach diesem Rezept veganen Mandelkuchen gebacken. Mister T und die Minis waren nicht so begeistert. Aber aller Anfang ist schwer.
Eine Antwort zu “#3 – Vom Essen und was auf den Tisch kommt”
Sehr unterhaltsam und lustig.Kann ich mir auch gut als Film vorstellen.
Bitte mehr davon!