#2 – Von Kindern und wer sich um sie kümmert


2021, Spätsommer. Das Baby ist da. Ich freue mich, dabei gehöre ich gar nicht zur Familie. Es kam etwas früher als erwartet, aber alle sind wohlauf, berichtet eine gemeinsame Freundin. In meinem Bauch flattert es. Gibt es etwas Schöneres als neues Leben?  

Ein paar Tage später bin ich zufällig in der Nähe und kaufe ein Geschenk. Höschen und Hemdchen aus Öko-Baumwolle. Nachhaltigkeit in der Wertschöpfungskette, ihr wisst schon. Nur die Plastikschleife auf der Geschenkverpackung verunsichert mich. Aber das gehört eben so, überzeugt mich die Angestellte aus dem Babyfachhandel.

Ich komme gerade noch rechtzeitig. Gerade sperrt die Bekannte die Tür ab, mit einer Hand den Griff des Kinderwagens fest umklammert. In die andere drücke ich ihr das Geschenk.

„Das Baby schläft, deshalb wollen wir die Zeit nutzen und eine Runde spazieren gehen“, sagt sie, halb entschuldigend, weil sie mich nicht hereinbitten wird. „Kein Problem, dann begleite ich dich ein Stück“, antworte ich. Ist doch klar, dass so ein kleines Leben Rhythmus braucht, um im Hier und Jetzt anzukommen. Der Tag ist getaktet, und das ist auch gut so.

„Wie geht es dem Baby?“, frage ich.

„Gut, gut. Isst, schläft, macht die Windeln voll.“

Da ist er, der Takt. Man dreht sich mit den Uhrzeigern im Kreis. Alles dreht sich um das Baby, und das ist auch gut so.

„Und wie geht es dir?“, frage ich weiter.

Sie verfällt in eifriges Nicken. „Gut, gut, die Geburt per Kaiserschnitt lief super, ich konnte gleich am nächsten Tag wieder durchs Zimmer hüpfen.“

Ich nicke mit. Es ist toll, wenn alles gleich funktioniert. Besonders die Eltern, denn sie müssen den Alltag stemmen. Mister T und ich waren überrascht, wie weit das bunte Spektrum der Verantwortung reicht: Die Eltern sind erster Ansprechpartner für zu spätes oder zu frühes Aufwachen, zu spätes oder zu frühes Zahnen, zu spätes oder zu frühes Krabbeln. Und das ist erst die Säuglingsphase. Als Kleinkind hatte Mini 1 eine undeutliche Aussprache, darum haben wir uns natürlich gekümmert. Im Kindergarten mussten wir schließlich zum Elterngespräch antreten, Mini 1 hatte eine unlautere Wortwahl. Offensichtlich war die Aussprache besser geworden, aber leider gab es dafür kein Lob.

Ich setze das Gespräch mit der jungen Mutter fort: „Und wie lange willst du zu Hause bleiben?“

„Zwölf Monate.  Ich habe für das Baby dann einen KiTa-Platz, montags bis freitags bis 14 Uhr, danach passt meine Mutter noch zwei Stündchen auf. Eingewöhnung ist dann auch schon in elf Monaten.”

Sie holt wieder Luft. Ich suche noch nach den richtigen Worten, dem verbalen Schulterklopfer, dass das alles in zwölf, nein, schon in elf Monaten klappen wird. Meine Bekannte führt indessen weiter aus: „Leider sind dann Sommerferien. Das könnte sich negativ auf die Eingewöhnung auswirken. Manchmal nehmen die KiTas in Ferienbesetzung ja keine neuen Kinder. Deshalb habe ich fünfzehn Monate Elternzeit beim Arbeitgeber angemeldet. Dann habe ich ein bisschen Puffer.“

Mittlerweile sind wir stehengeblieben, die Mutter, der Kinderwagen und ich. Die Planung erfordert unsere volle Konzentration.

Planung, geboren aus der Verantwortung.

Ich erinnere mich an lange Anmeldebögen und noch längere Wartelisten, von denen Mister T immer behauptet hat, dass sie gar nicht wirklich existieren, weil er noch nie eine zu Gesicht bekommen hat. Alles zu einer Zeit, als Mini 1 und Mini 2 erst gummibärchengroß auf dem Ultraschall zu sehen waren. Denn schon in diesem frühen Stadium beginnt die Verantwortung dafür, dass alles im Takt bleibt.

„In der 12. Schwangerschaftswoche habe ich das Baby für einen Betreuungsplatz angemeldet, gerade noch rechtzeitig“, bekräftigt die Mutter. „Nach der Geburt hätte die Wartezeit 24 Monate betragen.“

Nun gräbt sich eine steile Falte in ihre Stirn.

„Nur ein Geschwisterkind kann mir jetzt noch einen Strich durch die Rechnung machen. Das würde vorrangig einen Platz bekommen. Vielleicht reichen die fünfzehn Monate Elternzeit dann gar nicht.“

Ich schlucke. Ja, manchmal gehen Pläne nicht auf. Ich besinne mich darauf, dass meine Gelegenheit gekommen ist, der jungen Mutter Mut zuzusprechen: „Das wird schon funktionieren. Du hast doch wirklich an alles gedacht!“

Dabei fällt mir eine Redensart ein:

Es braucht ein Dorf, um ein Kind großzuziehen.

Angeblich ist die Redensart afrikanischer Herkunft. Ich frage mich, ob sich das Leben leichter anfühlt, der Takt einfach weiterschlägt, auch ohne monatelange Planung, wenn Eltern hierzulande die Verantwortung mit einem Dorf teilen könnten.

Wir verabschieden uns. Ich schaue zum Abschied in den Kinderwagen hinein, einen Blick möchte ich noch erheischen. Mir fällt Patrick Süskind und seine wunderbare Abhandlung über den Duft von Babyköpfchen in Das Parfum ein. Selbstverständlich werde ich nicht fragen, ob ich mal riechen darf. Das Baby schläft, und das ist gut so.

Ich bin mir sicher: Sein Köpfchen riecht nach Zukunft.

2081: Nach Picasso in den Garten

Fast hätte mich die Nachbarin aus dem 5. Stock vor der Haustür umgerannt. Mit meinen 100 Jahren bin ich doch recht wackelig auf den Beinen, zumal ich mich für den Türöffner auf die Zehenspitzen stellen muss. Der Gesichtsscanner hängt viel zu hoch.

– Bin im Stress, keucht sie.

Eine Ader pulsiert angestrengt an ihrer Schläfe. Links neben ihr schwebt ihre Kleine, etwa auf Hüfthöhe. Sie trägt einen Mini-Jet-Pack, vielleicht, um mit der Mutter Schritt halten zu können. Rechts neben ihr rollt etwas, das aussieht wie eine Silbertonne mit Farbklecksen.

– Diesen Monat habe ich Gartendienst und muss gleichzeitig für meine Kleine kochen, weil in der Kita Eltern-Kind-Pause ist.

– Was, ein ganzer Monat Eltern-Kind-Pause?

– Nein, sie winkt schnell ab, natürlich dauert die Pause nur eine Woche. Ein Monat, wie soll ich das neben dem Beruf stemmen. Ich arbeite Vollzeit, 30 Stunden die Woche, das muss man erstmal alles nebeneinander unterkriegen.

Mittlerweile steht die Tür offen.

– Im Hausflur wird nicht geflogen, Fräulein, ermahnt meine Nachbarin ihre Tochter.

Diese steht noch wie eine kleine Zauberfee in der Luft, bevor sie missmutig den Jet-Pack ausstellt. Der Farbklecks-Container rollt neben sie.

– Oh, das kenne ich noch von früher, seufze ich. Kita-Schließtage. Computer auf dem Küchentisch neben klebrigen Spaghetti. Von meinen 48 Arbeitsstunden sage ich nichts, Schnee von gestern.

Meine Nachbarin blinzelt mich an, räuspert sich.

– Na ja, am Küchentisch arbeiten muss ich nicht. Dafür gibt es ja die kostenlosen Eltern-Kind-Büros in unserer Wohnanlage, vollausgestattet. Nur das Kochen nervt. Meine Firma zahlt kein Catering für die Kinder in den Ferien.

– Catering an Kita-Schließtagen auf Firmenkosten? Ich bin sprachlos. Schnell wende ich mich der Tonne zu. Und was ist das, will ich wissen.

– Nicht was, wer. Sprich ins Mikrofon oben rein, bedeutet mir meine Nachbarin mit vielsagendem Blick.

Ich kann nicht widerstehen, probiere es aus.

– Hallo? Wer bist du?

– Guten Tag, antwortet eine helle Computerstimme. Ich bin Picasso, der Malroboter. Wenn du mir dein Lieblingstier sagst, zeige ich dir, wie du es malst.

– Picasso? Schon wieder bin ich sprachlos.

Meine Nachbarin schmunzelt.

– Den habe ich heute geliehen, damit sich die Kleine im Eltern-Kind-Büro nicht langweilt.

Tatsächlich tanzt ihre Tochter nun um Picasso herum.

– Meerschweinchen, ich will ein Meerschweinchen malen. Wo muss ich reinsprechen?

– Eine tolle Idee, sage ich. Und denke: Wenn Picasso helfen kann, kann ich das auch.

Meine Nachbarin strahlt, als ich ihr vorschlage, den Gartendienst diese Woche für sie zu übernehmen. Die Bewegung tut meinen alten Knochen gut. Im Sonnenschein draußen kann ich mich ohne Schmerzen bücken und strecken. Außerdem übernimmt der Gartenroboter das Rasenmähen und Unkrautzupfen.
Mir fällt ein, dass die Tomatensträucher vollhängen mit dicken, roten Früchten.

– Ich schicke später eine Drohne vorbei, an diesem Eltern-Kind-Büro, sage ich.

– Eine Drohne, warum, fragt meine Nachbarin erstaunt.

– Na, die bringt euch das Essen. Heute gibt’s Nudeln mit selbstgemachter Tomatensauce. Ich gebe mir auch Mühe, dass sie nicht klebrig werden.

 

2081: Alleskönner

Ich beobachte die Kleine. Mit ihren strammen Beinchen torkelt sie auf die Wand zu. Dann fällt sie um und setzt ihren Weg auf allen Vieren fort.  Ihre Mutter war mit einem Jahr auch nicht sicher auf den eigenen Füßen. Jetzt reckt die Kleine sich wieder, ihre Hände tasten nach den Grashalmen, Blüten und Bienen. Ich lege den Kopf leicht schief. Sie greift ins Leere, fängt an sich zu beschweren, mit Lauten, die irgendwann später, wenn sie älter ist, Silben und dann Worte werden. Wie soll sie verstehen, dass die Blumen nur Bilder auf einem Bildschirm sind?

Dafür ist sie noch viel zu klein.  

Ihre Mutter sitzt mir gegenüber am Tisch. Vor ihr ein Stück Papier. Der Aktivierungsbescheid. In drei Tagen wird sie an ihrem Arbeitsplatz zurück erwartet.

– Kannst du nicht Widerspruch einlegen, frage ich, die Kleine wird dich ja gar nicht mehr zu Gesicht bekommen, wenn du wieder von morgens bis abends ins Büro gehst.

Sie schüttelt energisch den Kopf.

– Auf gar keinen Fall werde ich die Aktivierung anfechten, erwidert sie. Ich könnte Sozialpunkte verlieren. Der Vermieter hat sich schon beschwert, dass ich das Limit für diese Wohnung bald unterschreite. Noch fünf Punkte weniger, und er schickt mir die Kündigung.

Ich kneife die Augen zusammen.

– Er droht mit der Kündigung, obwohl du pünktlich Miete zahlst? Der Vater überweist dir doch monatlich den Unterhalt, oder nicht?

Die Kleine quietscht, sie hat ein Plüschtier in einer Ecke gefunden. Auf der Stelle lässt sie sich auf ihren Windelpo plumpsen und beginnt, am Stoff zu nuckeln.

– Um Geld geht es nicht, erwidert ihre Mutter. Das hier ist ein gutes Viertel. Wenn wir unseren Platz hier halten wollen, muss ich mich eben anstrengen. Also arbeiten gehen, etwas für die Gesellschaft tun.

Ihr Oberkörper wandert nach vorne, sie sucht meinen Blick. Gleich wird sie mich fragen, ob ich auf die Kleine aufpassen kann. Ich weiß, dass sie von der kommunalen Betreuung nichts hält. Zu wenig Personal, zu viele Unfälle.

– Kannst du mir ein Glas Wasser bringen, frage ich unvermittelt. Ich bin selbst überrascht.

Sie schaut mich neugierig an.

– War das jetzt wieder der Chip, fragt sie zurück.

– Ja, bestätige ich knapp.

Eigentlich wollte ich kein großes Aufheben um den Chip machen. Ich muss mich selbst erstmal an ihn gewöhnen.

Ich habe schon wieder zu wenig getrunken. In meinem Alter vergisst man das eben schnell. Man verlernt die einfachsten Dinge: genug zu schlafen, sich dann und wann zu bewegen, um die Gelenke mobil zu halten. Das ist jetzt alles unter Überwachung, die Sensoren im Chip passen darauf auf.

Rasch steht sie auf und holt ein Glas Wasser. Jetzt wird sie die Frage stellen, und ich kann ihr nicht mehr ausweichen. Verantwortung für ein so zerbrechliches Wesen auf meinen 100-jährigen Schultern, das ist wie eine riesige Vase auf einem Unterbau aus getürmten Weingläsern.

Ihr Kommentar reißt mich aus meinen Gedanken:

– Der Chip ist praktisch. Ein echter Lebenshelfer.

– Ja, das stimmt. Meine Falten und mein Rheuma sind zwar noch da. Aber die Technologie erkennt meine Bedürfnisse, formuliert sie aus. Ich halte kurz inne und berichtige mich: Sie lässt mich die Bedürfnisse formulieren. Ist halt auch mit dem Sprachzentrum vernetzt.

Sie nickt etwas verhalten.

– Am besten würde der Hersteller den Chip so programmieren, dass er auch gleich selbst erklärt, wie er funktioniert, versuche ich zu scherzen.

– Ich weiß, wie er funktioniert, entgegnet sie.

– Du weißt – woher – brauchst du ihn für die Arbeit, will ich wissen. Musstest du ihn dir etwa implantieren lassen?

– Nein, nein, beschwichtigt sie mich. Ich weiß eben, wie er funktioniert.

Ich finde es ja gut, dass sie etwas darüber weiß, dass sie sich eingelesen hat, weil ich einen trage. Obwohl ich das Implantat ganz alleine beauftragt habe, um ihr nicht auch noch zur Last zu fallen.

Die Kleine krabbelt zu unserem Tisch. Dort liegt ein Buch, mit einem Umschlag in bunten Farben. Sie versucht sich aufzurichten, greift nach ihm. Sie möchte wissen, ob es echt ist, nachdem die Blumen eben nur Illusion waren. Ich gebe ihr das Buch in ihre rosa Hände und streichele ihr über den Kopf.

– Hör zu, sage ich langsam, wenn du Hilfe bei der Kinderbetreuung brauchst-

– Nicht nötig, unterbricht sie mich. Ich weiß, dass dich das körperlich zu sehr mitnimmt.

– Du weißt -, setze ich an.

Sie wartet nicht, bis ich mich gesammelt habe, spricht einfach weiter:

– Du warst eine sehr späte Mutter, dann liegt das doch auf der Hand.

Mein Rheuma schmerzt, jede Falte an mir schreit: späte Mutter, späte Mutter, späte Mutter.

– Ich möchte ein bisschen auf und ab gehen, meldet sich der Chip.

Während ich mich am Tisch aufstütze und hochziehe, holt sie ein Tablet.

– Ich habe eine andere Lösung gefunden, deutet sie an. Sie macht ein paar Eingaben, lächelt mich an. Pass auf, Mutter.  

Plötzlich dringt eine Stimme an mein Ohr, glasklarer Klang wie aus teuren Lautsprechern: „Und Benjamin legte den Hebel um und war verschwunden. Übrig blieb nur die leere Kapsel.“

Mit dem Kinn deutet sie auf die Kleine. Deren Lippen bewegen sich:

– Benjamin wachte in einem grünen Dschungel auf, voll mit hohen Bäumen und bunten Papageien.

Ich sehe die Kleine, das Buch liegt auf ihren Beinchen, zum Schneidersitz gekreuzt. Mein Blick rast von ihr zum Tablet, zurück zum Buch, zum Gesicht der Kleinen. Aus dem Mund mit den drei Milchzähnen dringt ein Lachen, dann wieder diese Stimme:

– Wie gefällt dir die Geschichte über Benjamins Teleporter, Oma?  

Meine Kehle ist trocken. Ich lasse mich auf den Stuhl zurücksinken, trinke, krampfe, warte darauf, dass das Wasserglas in meiner Hand zersplittert.

– Der Chip ist ein echter Alleskönner, wenn er multipel vernetzt ist, sagt ihre Mutter stolz. Ich soll nur alles, was sie tagsüber braucht, bodennah positionieren, also ihr Essen, die Wasserflasche und ihre Windeln. Fernbedienung und Bücher zur Ablenkung. Der Rest läuft dann ganz von allein.

– Ich möchte ein Taschentuch, meldet sich der Chip, mein Chip. Erst jetzt merke ich, dass eine Träne über meine Wange rollt.  


4 Antworten zu “#2 – Von Kindern und wer sich um sie kümmert”

  1. Schon zweimal gelesen, gefällt mir immer besser. Die Gegenüberstellung von heute zum Jahr 2081 finde ich spannend. Mehr davon!

  2. Auch mehrmals gelesen 🙂 Und bin so froh und dankbar für dein Blog! Ich muss auch sagen, ich musste bei dem “Realität” Teil auch oft schmunzeln – und bei dem Zukunft-Teile hatte ich natürlich viel nachzudenken.

    • Liebe Olivia Falkenstein, danke für deine positive Rückmeldung zu meinem Blog! Ich freue mich, wenn die “Realität” dir ein Lächeln abgewinnt. Und wie sagte der Literaturnobelpreisträger John Galsworthy: Wenn du nicht über die Zukunft nachdenkst, kannst du keine haben. Also schreiben und lesen wir hoffentlich fleißig weiter 🙂

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